Aufgeklärte Nostalgie
Über Michaela Meliáns neues Album Monaco und die Debütsingle des Düsseldorfer Disco-Projekts Ex Versions
Es gibt Musik, die einem etwas von der Welt da draußen erzählen will. Und dann gibt es Musik, die sich wie eine wohltuende außenweltdichte Haube über den Hörer legt. Sie dient nicht der Aufnahme von Informationen, sondern fungiert als Lärmschutzwand gegen die Zudringlichkeit des Faktischen. Dass das auch geht, ohne gleich in eskapistischen, verblödenden Wohlklang abzudriften, zeigt die Musik der Künstlerin und Bassistin der Band Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.) Michaela Melián. Nach Baden-Baden (2004) und Los Angeles (2007) ist jetzt – als dritter Teil ihres geografisch betitelten Zyklus – das Album Monaco erschienen (alle: Monika Enterprise). Die Musik ist so einfach und raffiniert wie das Cover des Werks. Es zeigt den Ausschnitt einer fünfreihigen weißen Perlenkette vor schwarzem Hintergrund. Das wie alles Monströse faszinierende Fürstentum an der Côte d’Azur mit seinen reichen Steuerflüchtlingen und seiner Welt des Scheins, in der selbst das Edle seltsam abgeschmackt wirkt, lässt sich kaum pointierter symbolisieren: Die echten Perlen schätzt man seit dem Frühneolithikum als Symbol für alles mögliche Gute. Sie besitzen erheblichen Wert, während die von ihnen kaum zu unterscheidenden künstlichen Imitate in Dauerwerbesendungen verscherbelt werden.
Dem von Melián mit der Berliner Grafikerin Kerstin Riedel designten Cover lässt sich noch eine weitere Bedeutungsebene abgewinnen – wenn man der wellenartigen Abweichung Signifikanz beimisst, die in der oberen zweiten Reihe der ansonsten parallel aufgereihten Kette zu beobachten ist. Dass das Schöne mit einer Störung von Ordnung und Symmetrie zu tun habe, vermutete bereits der englische Philosoph Francis Bacon (1561–1626), als er schrieb: „There is no excellent beauty that hath not some strangeness in the proportion“ – ein Satz, den Edgar Allan Poe und der ihn verehrende Besinger antiklassischer Schönheit Charles Baudelaire zu zitieren nicht müde wurden. Ohne solche Vorlieben für das Kippen von Ordnung in Unordnung, bis hin zu Zerfall, gäbe es weder den englischen Landschaftsgarten mit seinem Hang zu künstlichen Ruinen und pittoreskem Totholz noch die französischen Schönheitspflästerchen des Rokoko.
Auf Monaco nehmen verrutschende Loops, kleinste Akkordverschiebungen oder Gleichlaufschwankungen wie auf Promenadeplatz diese Pflästerchenrolle ein. Der auf Wiederholung beruhende minimalistische Klangkosmos des Albums – Klaviersounds, Violoncello, Gitarre, Glockenspiel, Lamellophon, Zither und analoges Rauschen – entfaltet eine langsam schreitende und stets dem Verstummen nahe Melancholie. Trotz ihrer organischen Wärme tappt die Musik weder in eine neoromantische Kitschfalle (Philip Glass, Hauschka, Michael Nyman) noch in den Spielzeug-elektronischen Niedlichkeitsfettnapf (F.S. Blumm). Stattdessen klingt Monaco mal wie Wolfgang Voigts Gas-Projekt – ohne Humpta-Beats – und mal wie ein nie geschriebener Soundtrack des russischen Filmkomponisten Edward Artemyev (Solaris, Stalker) für einen Béla-Tarr-Film. Melián, die an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Professorin für zeitbezogene Medien ist, gelingt es sogar, ihre Stücke mit hauntologischem Vinylgeknispel à la The Caretaker zu versehen, ohne dabei altmodisch, kokett oder auf billige Weise nostalgisch zu wirken.
Billig ist Nostalgie immer dann, wenn sie Verrat an ihrem aus der Heimkehr (nóstos) und dem Schmerz (álgos) zusammengesetzten griechischen Namen übt, indem sie die Heimkehr, zum Beispiel auf Retropartys, einfach vollzieht, statt deren Unmöglichkeit zu betrauern. Dass Melián auf intelligente Weise nostalgisch sein kann, zeigt sich auch, wenn sie singt: Auf jedem ihrer Soloalben covert sie einen ihrer musikalischen Helden. Enthielten die beiden ersten Alben je ein Roxy-Music-Stück, so covert sie auf Monaco nun David Bowies klaustrophobisches Scary Monsters (1980). Ihre Version ist aber kein Re-enactment, sondern beugt jeder Verwechslungsgefahr mit dem Original durch Verfremdung vor. So könnte der outrierte deutsche Akzent ihres Englisch breiter kaum sein. Nicht nur seine Färbung, auch die unterkühlt-distanzierte Stimme Meliáns erinnert an Nico, von der Andy Warhol in POPism (1980) berichtete, ihr Gesang werde gern als „IBM computer with a Garbo accent“ beschrieben.
Noch auf einem weiteren neuen Stück lässt sich nachhören, wie nichtnaive Nostalgie klingt. Melián gastiert auf der ersten 12-Inch des Konzeptdiscoprojekts Ex Versions, das aus Stefan Schwander (Antonelli Electr.) und Marc Knauer besteht. Im Mash-up-Track Baßläufe (Italic, 2013) singt Melián eine eingedeutschte Verkürzung des aus lediglich einer Textzeile bestehenden Disco-Hits Fly, Robin, Fly (1975) von Silver Convention. „Rotkehlchen, flieg“, intoniert Melián mit rollendem R, bevor ein Melodiezitat aus Kraftwerks Computerwelt folgt. Auf seine abstrakt-reduzierte Art groovt das Stück höllisch. Zugleich sagt es: Die schwitzige Hüftschwingmusik der Disco-Ära emulieren wir nicht. Zitat statt Wiederkehr des Gleichen. Der Erkenntnisvorsprung gegenüber unkreativen Retroisten wie Editors, Savages oder The XX ist flagrant: Man kann nicht nur nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Es ist auch ein ästhetischer Offenbarungseid, es zu wollen.
Thomas Hübener